Ecuador – Leben im Bambushaus

09.09.-25.09.2015

Das erste Erlebnis in Ecuador ist nicht so schön: In einer kleinen Stadt hinter der Grenze passiert etwas, worauf ich gerne verzichtet hätte. Wie überall in Lateinamerika gibt es hier viele Hunde die auf den Straßen herum laufen. Schon oft haben wir entsprechende Unfallopfer mehr oder weniger erkenntlich am Wegesrand liegen sehen. Kurz vor mir läuft ein größerer Hund auf die Straße. Ich bremse ab und hupe, er schaut mich noch an, gerät dann in Panik, wechselt zweimal die Richtung bis er schließlich über die Gegenspur rennen will. In dem Moment kommt ein Taxi und rammt den Hund mit circa 40 km/h genau vor meinen Augen in voller Breite. Ich höre einen furchtbaren Knall, ein kurzes Jaulen, und sehe wie der Körper des Hundes an der Stoßstange aufprallt und sich sein Körper verformt. Er ist sofort tot und bleibt am Straßenrand liegen, während das Taxi langsam weiterfährt. Den ganzen Tag kann ich an nichts anderes mehr denken.
 
Von der kolumbianischen Grenze aus fahren wir über die E10 gen Westen. Der Weg führt uns zunächst durch einen Canyon und bergiges Gebiet mit spärlicher Vegetation, bis wir plötzlich durch dichten Regenwald fahren. Die Straße ist bestens asphaltiert und schlängelt sich mit sanften Kurven durch den Wald. Auch der frische Waldgeruch und der wenige Verkehr tragen zu einem schönen Fahrerlebnis bei. Immer wieder kommen wir an kleinen Holzhütten, die wegen den vielen Regenfällen hier oftmals auf Stelzen stehen, vorbei. Sie wirken zum Teil sehr ärmlich was den baulichen Zustand des Hauses angeht. Die Nähe zur Natur, die Ruhe und der Freiraum sind Dinge, die die Bewohner jedoch vermissen könnten, wenn sie in die Stadt ziehen. Die feuchte Hitze ist für uns allerdings erdrückend, umso besser schmeckt der frische Obstsalat den wir am Straßenrand kaufen können. Wir probieren auch verschiedene Riegel aus einer Kokosmasse, die extrem gut schmecken und uns neue Energie bringen.
 
Unser erstes Ziel in Ecuador ist ein Bambushaus in dem kleinen verschlafenen Surfer-Örtchen Mompiche. Wir haben es über „Workaway“ gefunden, einer Plattform für Freiwilligenarbeit. Wir bieten also unsere Arbeitskraft für ein paar Stunden in der Woche an und bekommen dafür die Unterkunft gestellt. Es ist ein Volltreffer. Nancy ist unsere Gastgeberin, von den Dorfbewohnern wird sie „Sirena“ genannt, was auf Deutsch „Meerjungfrau“ bedeutet. Die 60-jährige Kalifornierin hat sich hier in Mompiche ihren Traum erfüllt: Sie hat sich ein Bambushaus nach ihrem eigenen Entwurf bauen lassen und wohnt nun darin. Das Haus ist aufgebaut wie eine Hochzeitstorte: 5 Ebenen bauen immer kleiner werdend aufeinander auf. Bis auf ein Fundament aus Stahlbeton und den Böden aus Holzbrettern, ist die komplette Konstruktion aus Bambusrohren gebaut.
Im Erdgeschoss liegen die restlichen Bambusrohre auf dem Sandboden, neben denen wir unsere Motorräder zum Parken halb im Sand versenken. Die erste Etage ist eine große Fläche, die noch ungenutzt ist und die sie später zur Veranstaltung von Workshops und Tanzstunden nutzen möchte. Darüber findet sich der Wohnbereich mit Küche, Bad und Hängematten. Wir dürfen in die dritte Etage einziehen, welche aus einem Zimmer mit einem Doppelbett besteht. Ganz oben, in der vierten Etage befindet sich die sogenannte „Honeymoon“ Suite – ein circa 15 Quadratmeter großes Zimmer, mit 360 Grad Ausblick, welches Sirena als Schlafzimmer benutzt. Von hier kann sie sowohl über den Regenwald blicken als auch über das Dorf und das Meer. Dies ist ein einzigartiger Wohnort.
 
Das Haus ist ab der ersten Etage nach allen Seiten hin offen, es gibt keine Außenwände, nur ein paar Fensterläden, die man als Regenschutz herunterklappen kann, um das Hausinnere vor Regen zu schützen. Es ist hier im ganzen Jahr in der Gegend immer ausreichend warm, sodass hier niemand frieren muss. Der Begriff „Heizung“ dürfte den Einwohnern hier ein Fremdwort sein. Sowie das Haus selbst, ist auch der Großteil der Inneneinrichtung aus dem Riesengras gefertigt: Innenwände, Betten, Kleinmöbel, Spiegel, Treppen, Regale etc. Türen gibt es nicht. Es ist definitiv ein inspirierender Wohlfühlort. Ein paar kleine Schattenseiten gibt es dennoch: Im Haus gibt es so gut wie keine Privatsphäre. Da es keine Räume mit vier Wänden und Fenstern gibt, gibt es auch keine Schalldämmung. Man bekommt immer mit, was der andere macht. Das Bad befindet sich in einer Nische um die Ecke, jedoch ebenfalls ohne abschließbare Tür. Sobald sich jemand im Haus bewegt, spürt man dies durch Schwingungen. Selbst als wir abends im Bett liegen, spüren wir es, wenn die Katze eine Etage tiefer von der Bank auf den Boden springt. Bei einem Erdbeben hat dies allerdings Vorteile. Die Energie wird durch die Schwingungen abgebaut, Bambushäuser gelten bei richtiger Konstruktion als sehr erdbebensicher.
 
Gleich am ersten Abend hat uns allen der alte Gaskocher einen kleinen Schrecken eingejagt. Wir saßen in gemütlicher Runde, als es plötzlich knallt und blitzt und wir das Gerät in Flammen aufgehen sehen. Ähnlich wie beim Holzhaus ist Feuer ein natürlicher Feind des Bambushauses. Mit Decken versuchen wir es zu ersticken, doch es hört nicht auf. Erst als es jemand schafft die Gasflasche zuzudrehen, können wir das Feuer besiegen. Nun sehen wir auch den geschmolzenen Gasschlauch, der am halb verrosteten Gaskocher klemmt und aus dem die Stichflamme herausgeschossen kam. Das sieht alles wenig vertrauenserweckend aus, vor allem wenn man von deutschen Standards verwöhnt ist. Unserer Gastgeberin wurde vor ein paar Tagen die Gasflasche geklaut. Daher hat sie sich neben einer neuen Gasflasche auch ein neues Ventil und einen Schlauch kaufen müssen. Wir verdächtigen zunächst den Schlauch, doch in dem kleinen Eisenwarenladen des Dorfes stellt sich am nächsten Tag heraus, dass sie ein Ventil für den Industriegebrauch gekauft hatte. Bei dem viel zu hohen Druck hat sich dann der Schlauch verabschiedet. Nachdem wir das Ventil getauscht haben, gab es zumindest während unseres Aufenthaltes keine weiteren Zwischenfälle mehr. Ein großer schwarzbrauner Fleck über dem Herd wird allerdings noch länger an diesen Vorfall erinnern.
 
Wir fragen Sirena wobei wir ihr in den nächsten Tagen helfen können, um uns unsere besondere Unterkunft auch zu verdienen. Sie sagt wir sollen uns erstmal entspannen von der Fahrt mit unseren „Raumschiffen“ und lädt uns zu einer Partie Domino ein. Domino ist ihr Lieblingsspiel, welches sie mit jedem Freiwilligenarbeiter hier spielt. Nun wird uns auch klar, nach welchem Prinzip die Herrenrunden auf Kuba gespielt haben. Während man das einfache Domino aus den eigenen Kindertagen nur als Aneinanderreihen gleicher Augenzahlen kennt, muss man sich bei hiesiger Spielweise mit taktischem Überlegen etwas mehr anstrengen. Das Spiel will ich nun hier nicht erklären, es sei nur gesagt, dass in den nächsten zwei Wochen so einige Runden folgen, da Sirena besonders morgens nach dem Frühstück nach spielwilligen Opfern sucht. Stephan hat sich meistens erbarmt, während ich im Hängesessel ein Buch nach dem anderen verschlungen habe. Manchmal war es dann plötzlich schon mittags. Aber das stört ja auch keinen hier.
 
Eigentlich wollten wir bei dem Projekt lernen, wie man mit Bambus bauen kann, doch derzeit steht kein brauchbares Werkzeug zur Verfügung. Nachdem sich das Kreissägeblatt der alten Maschine beim ersten Verschnitt eines Bambusrohres im Rahmen verkeilt, suchen wir uns lieber Tätigkeiten, bei denen wir keine Gliedmaßen verlieren können. Sirena hat ohnehin eine andere Aufgabe für uns. In naher Zukunft muss der Bambus des ganzen Hauses imprägniert werden. Es wurde leider versäumt vor dem Hausbau die Rohre entsprechend zu behandeln, da alles schnell gehen musste. Die günstigste Variante ist nun die Behandlung mit Diesel. Jawohl, Diesel. Die berühmte andere Seite der Medaille kommt ans Licht. Damit das Mittel gut einziehen kann, muss der Bambus von seiner rauen Oberfläche befreit werden. Mit feiner Stahlwolle bewaffnet, eine Schleifscheibe gibt es leider nicht, machen wir uns ans Werk. Das was wir von der Oberfläche entfernen sind fiese, auf der Haut Juckreiz erzeugende feine Partikel, die auch noch schön in der Kleidung hängen bleiben. Stephan zieht sich einen tiefen Schnitt in den Finger, als er versucht, die gröbere Stahlwollknolle in kleinere Portionen zu zerlegen. Zum ersten Mal kommt nun unser Erste Hilfe Paket zum Einsatz. Mit zwei Pflastern ist das erstmal erledigt und die Wunde heilt zum Glück schnell wieder zu. Ein sauberer Schnitt. Nach der Reinigung kommt jedoch die Belohnung: Der Bambus fühlt sich geschmeidig glatt an und auch optisch merken wir den Unterschied. In den nächsten Tagen schrubben wir also täglich ein paar Stunden das Haus mit Stahlwolle.
 
Mittags verschlägt es uns meistens ins „Kiwis“, einem kleinen Restaurant in dem es jeden Tag ein anderes Mittagsmenü von gesunder Küche mit Suppe, Hauptgericht und Getränk für $3,50 gibt. Typischerweise gibt es in Ecuador Reis mit Hühnchen oder Fisch. Im „Kiwis“ versucht die Köchin jedoch den Speiseplan mit Gemüsegerichten etwas aufzuwerten.
 
Ab und an bekommt Sirena Besuch von Adam. Er ist ein ehemaliger „Flight Officer“ aus Florida und verbringt hier ein paar Monate mit „Housesitting“. Die eigentliche Hauseigentümerin ist längere Zeit verreist, Adam passt auf ihr Haus auf und darf so kostenlos bei ihr wohnen. Auch Pinar und Sophie, die beiden „Zigeuner-Hippie“ Mädchen, wie sie sich selbst in ihrem Reise-Blog nennen, kommen gelegentlich vorbei. Es wird also nie langweilig. Mit Adam und den beiden Mädels unternehmen wir einen Ausflug zum schwarzen Strand. Dieser heißt so, weil der Sand dort nicht wie üblich weiß oder braun ist, sondern tiefschwarz. Der Sand ist extrem fein, sodass er wie Schlamm auf der Haut haftet. Entsprechend sehen wir dann aus.
 
Auf dem Rückweg nach Mompiche kommen wir am Strand an einem kleinen Tierreservat vorbei. Eine Frau nutzt hier ihr Grundstück, um herrenlosen oder ausgestoßenen Haustieren ein zu Hause zu geben. Etliche Hunde und Katzen, die zum Teil sehr verwahrlost aussehen, teilen sich hier den Platz. Die Frau versorgt diese Tiere und lebt dabei selbst sehr einfach. Die Szene erfüllt mich einerseits mit Traurigkeit, andererseits auch mit Ehrfurcht vor solchen Menschen, die sich so um andere Wesen kümmern und dabei selbst zurückstecken.
 
Wir bekommen Besuch von Freunden, die wir unterwegs kennengelernt haben. Da ist zum Beispiel Ingo. Ihn hatten wir bereits in den USA, Guatemala und Kolumbien getroffen. Er ist auch Motorradreisender, kommt aus Potsdam und ist, mit einem längeren Zwischenstopp zum Arbeiten in Australien, schon seit 4 Jahren auf seiner Tenere unterwegs. Einige Tage später kommen uns Les und Catherine besuchen, die beiden Kanadier, die wir schon auf der Stahlratte getroffen haben. Die beiden reisen ebenso langsam wie wir. Trotz ihren Alters (55 & 65), machen sie eine gute Figur auf den beiden Kawasaki KLRs und scheuen sich vor keinem Abenteuer.
 
So verbringen wir einige entspannte Tage in Mompiche, leben im Bambushaus, schrubben Bambusrohre, spielen Domino, lesen Bücher, treffen uns mit unseren Freunden und genießen den Dschungel um uns herum. Bei einem Ausflug sind wir im Dschungel auf Brüllaffen und viele Spinnen getroffen und wissen nun auch wie frische Kokosnüsse schmecken.
 
Bei einer Einheimischen lernen wir, wie man aus Kakaobohnen Schokolade macht. Zunächst rösten wir die frischen Bohnen in einer gusseisernen Pfanne über dem Feuer. Circa eine halbe Stunde lang müssen die Bohnen ständig umgerührt werden, damit sie nicht anbrennen. Dabei müssen wir die Augen zukneifen, da uns der scharfe Rausch des Feuers Tränen in die Augen treibt. Im Anschluss schälen wir die heißen Bohnen per Hand, eine langwierige Arbeit. Es riecht so gut, dass ich doch mal eine kosten muss. Der reine Kakao schmeckt einerseits bitter, doch das Kakaoaroma ist unbeschreiblich gut.
Der letzte Schritt ist das Mahlen der geschälten Bohnen, denen nach Belieben Gewürze wie Vanillestangen oder Zimt beigemengt wird. Das Mahlen erfolgt per Hand mit einer Kakaomühle (das Gerät sieht einem Fleischwolf ähnlich), die mit einer Schraubzwinge am Tisch befestigt wird. Das Gerät ist wahrscheinlich schon Jahrzehnte alt und will nicht mehr so richtig am Tisch klemmen, was die ohnehin schon schweißtreibende Aktion noch erschwert. Doch das Ergebnis lohnt sich. Wir sind erstaunt, was für eine ölige Masse aus den so trocken erscheinenden Bohnen entsteht. Das Ergebnis kann sich sehen und schmecken lassen. Es ist natürlich immer noch purer Kakao und schmeckt im Vergleich zur Tafelschokolade sehr bitter. Doch als Heißgetränk schmeckt es super und unsere Geschmacksnerven haben mal wieder ein ursprüngliches und natürliches Aroma wahrnehmen dürfen.
 
Auf der Hauptstraße des Dorfes befindet sich eine „Open Air“-Möbelwerkstatt. Der Bambus-Handwerker Alejandro baut hier gemeinsam mit seinem argentinischen Praktikanten Betten und Kleinmöbel aus Bambusrohren. Wir verfolgen einige der Arbeitsschritte aus denen die Stücke aus dem Riesengras entstehen. Kreissäge, Stichsäge und Trennschleifer sind wichtige Werkzeuge. Gemessen wird mit dem Metermaßband, angerissen mit Schablone und Bleistift. Das Zusammenfügen der Teile erfolgt nach mehrmaligem Anpassen durch Bearbeitung mit der Stichsäge. Ein deutscher Arbeitsschutzbeauftragter hätte hier seine wahre Freude: spanende Verarbeitung ohne Schutzbrille, die nackten Füße mit Flipflops bekleidet und die Kabel der Elektrowerkzeuge wild durcheinander… Die Produkte jedenfalls können sich sehen lassen: Sie sind einfach aber funktional und sehen ästhetisch aus. Bis auf die verwendeten Schrauben, wächst das Material dazu einfach aus dem Boden.
 
Im Nachbargrundstück von Sirenas Bambushaus wohnt leider ein geistig Verstörter, der stundenlang Musik in Diskothekenlautstärke hört. Die Hütten hier haben weder Fenster noch Türen, das Bambushaus ist ohnehin nach allen Seiten offen, sodass wir die Beschallung ungefiltert ertragen müssen. Leider sogar nachts um eins. Wir fragen Sirena warum sie oder kein anderer der Nachbarn sich beschweren. Scheinbar will niemand Ärger mit diesem Kerl haben und so bleibt uns nichts anderes übrig, als noch ein paar weitere Nächte mit Latino-Mucke in gefühlten 120 Dezibel Lautstärke zum Einschlafen zu hören. In Ecuador gibt es zwar keine Gartenzwerge, aber andere Nachbarschaftsproblemchen.
 
Mompiche lebt von der Fischerei und immer mehr auch vom Tourismus. Einige kleine Cafés, Bars und Hostels sind bereits vorhanden. Es fühlt sich etwas so an, als wäre das Örtchen noch ein Geheimtipp. Sirena meinte jedoch, während der Surfer-Saison ist der Ort schon kaum wiederzuerkennen, da dann abends auch die Nebenstraßen mit partywütigen Urlaubern gefüllt sind. Wir waren glücklicherweise außerhalb der Saison hier. Für uns lag der Charme neben dem tropischen Flair eher in der Einfachheit und Ruhe, aber damit könnte es bald vorbei sein, wenn der Ort ganzjährig gut besucht ist. Man sagt, Mompiche wird in Zukunft zu einem Surfer- und Backpacker-Partyparadies heranwachsen. Für die Einwohner ist dies immer Fluch und Segen zugleich. Mit den Touristen können sie Geld verdienen, allerdings verkaufen sie auch immer ein Stück von sich selbst.
 
Nach zwei Wochen Wohnen im Bambushaus bepacken wir wieder unsere Motorräder und verabschieden uns von Sirena. Wir hatten eine sehr schöne Zeit hier und haben mal wieder eine ganz andere Art zu Leben kennen gelernt.
 


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